Peitschenschlag-Syndrom

Alles nur Betrug? Haftpflichtversicherer wollen Schadenersatz-Zahlungen streichen

" Kein Geld mehr nach Peitschenschlag-Syndrom. Versicherungen fühlen sich zu oft reingelegt ", damit titelte in der Vorwoche die Tageszeitung "Die Presse". Die österreichischen Haftpflichtversicherer ließen damit aufhorchen, kein Geld mehr für Peitschenschlag-Opfer auszahlen zu wollen. Zu oft fühlen sie sich von vermeintlich Betroffenen hereingelegt. Alles nur Betrug? Der ÖAMTC und die Ärztliche Kraftfahrvereinigung Österreichs (ÄKVÖ) wollten derartige Pauschalverdächtigungen nicht unwidersprochen hinnehmen. Ein interdisziplinäres Symposium in Wien soll Klarheit bringen.

"Mehrere tausend Unfallopfer bemühen sich jährlich um die Durchsetzung ihrer Schmerzengeld-Ansprüche. Viele unter ihnen fühlen sich aber bald wie Versicherungsbetrüger behandelt", sagt ÖAMTC-Präsident Werner Kraus in der Eröffnungsrede anlässlich des gestrigen ÖAMTC/ÄKVÖ-Symposiums, das sich dem Thema "Peitschenschlag": Autofahrer - Simulant oder Opfer, widmet.

"Patienten stehen zunehmend unter Beweislast bzw. im Beweisnotstand", erklärt ÖAMTC-Jurist Martin Hoffer. Diskrepanzen und Widersprüche in der Fachwelt - vor allem unter medizinischen und technischen Sachverständigen, aber auch in der Gerichtspraxis - über Verletzungskausalität, Art und Dauer der Beeinträchtigung bzw. Schmerzen an sich, machen es für die Betroffenen nicht einfach. Im Kampf gegen den Missbrauch ziehen sich Versicherer gerne auf Harmlosigkeits- bzw. Geringfügigkeitsgrenzen zurück: Etwa wird ganz allgemein die Meinung vertreten, unterhalb eines aufprallbedingten Geschwindigkeitsunterschiedes von 11 km/h seien Schmerzensgeldforderungen völlig unbegründet. Derartige allgemeine Formeln sind aber laut Hoffer sehr umstritten. "Die neuere deutsche Rechtssprechung geht bereits von den Bagatellgrenzen ab", erklärt der ÖAMTC-Experte. Daten aus Kanada, die zeigen, dass nach Einführung einer Bagatellgrenze die Zahl der Peitschenschlagverletzungen binnen eines Jahres um 30 Prozent zurückgingen, lassen Hoffer unbeeindruckt. "Das beweist lediglich, dass mindestens 70 Prozent der Ansprüche berechtigt waren."

Peitschenschlag-Opfer klagen oft nicht unmittelbar nach dem Unfall über Beschwerden. Erst einige Stunden oder Tage später bemerken sie Probleme im Hals- und Nackenbereich oder Kopfschmerzen. Die Symptome sind vielfältig. Oft verschwinden diese bald wieder, für manche beginnt aber dann erst ein langer Leidensweg. Die Diagnose selbst stellt eine große Herausforderung dar. Bertram Geigl vom Institut für Fahrzeugsicherheit der TU Graz bringt die Problematik auf den Punkt: "Bei einem Großteil der Verletzungen sind trotz modernster Diagnostikmethoden (Computer-Tomografie, Magnetresonanz) vielfach keine objektiven Verletzungsanzeichen feststellbar ." Deshalb beeinflussen Vorurteile gegen "unerklärliche" Peitschenschlag-Verletzungen die medizinische Behandlung der Betroffenen und besonders die Begutachtung der Verletzungen in Gerichtsverfahren wegen Schmerzengeld. Das erläutert Rechtsanwalt Markus Frank, der als Betroffener aus der Sicht eines Verletzten und als rechtskundiger Kläger in eigener Sache spricht. " Wer beim behandelnden Arzt langfristige Beschwerden nach Peitschenschlag behauptet, wird in den meisten Fällen sofort mit größtem Misstrauen behandelt ", so Frank. Die Begutachtung selbst beschränkt sich oft auf technisch-"objektive" Beweise, insbesondere Röntgen-Bilder. "Schmerzen enden aber nicht unbedingt dann, wenn im Röntgen keine Verletzung (mehr) zu sehen ist", sagt Frank.

In solchen Fällen macht eine interdisziplinäre Begutachtung Sinn. Isabel Mazzotti vom orthopädischen Forschungsinstitut Münster sieht hier vor allem die medizinischen Sachverständigen gefordert. "So kann bei herabgesetzter Belastbarkeit des Betroffenen eine Verletzung bereits bei einer geringen Belastung auftreten. Diese Beeinträchtigung kann aber nur eine gewissenhafte medizinische Untersuchung nachweisen. Bei einer Betrachtung aus rein technischer Sicht bzw. unter Heranziehung lediglich der unfallbedingt einwirkenden biomechanischen Belastung bleiben diese Aspekte unberücksichtigt", erklärt Mazotti. Und das führe zu Fehlbeurteilungen.

"Fast zehn Prozent des gesamten Aufwandes der Versicherer für Personenschäden entfallen auf 'Peitschenschlag'-Verletzungen", erklärt Roman Sadler von der Generali Versicherung. Seit den 90er Jahren kommt es zu "Peitschenschlag-Epidemien". Die jährlichen Kosten wegen Peitschenschlags betragen in der EU zumindest zehn Milliarden Euro pro Jahr. "Allein in Österreich belaufen sich die Kosten für Schmerzengeld-Zahlungen nach Halswirbelsäulen-Verletzungen auf mehr als 25 Millionen Euro jährlich", sagt Sadler. Eine gewissenhafte Prüfung von Forderungen liege im Interesse aller Prämienzahler und qualifiziere den Verletzten nicht als Simulant. Außerdem drohen bei zu großzügiger Zahlungspraxis Prämienerhöhungen.

Hinter der dramatischen Zunahme von Peitschenschlag-Verletzungen steht laut Rechtsanwalt Markus Frank nicht ein kollektiver Peitschenschlag-Betrug, sondern eine " suboptimale" Entwicklung in der Auto-Sicherheitstechnik . "Sehr steife Autos schützen beim Crash zwar vor der Beschädigung der Fahrgast-Zelle - haben aber das Risiko von Beschleunigungs-Verletzungen seit den 90er Jahren verdoppelt, besonders beim Heck-Crash. Beim Schutz vor Peitschenschlag-Verletzungen kommt Autositzen und Kopfstützen eine besondere Bedeutung zu.

Um das Verletzungsrisiko möglichst gering zu halten, sind richtig eingestellte Sitze und Kopfstützen das Um und Auf - darüber sind sich alle Experten einig. Der ÖAMTC hat im Raum Wien bei 1.000 Fahrzeuginsassen die Einstellung der Kopfstützen im Fahrzeug erhoben. "Das Ergebnis gibt keinen Anlass zu Optimismus", erklärt Testleiter ÖAMTC-Techniker Steffan Kerbl. " Mehr als ein Drittel der Fahrzeuginsassen ist mit zu tief eingestellter Kopfstütze unterwegs , während nur einem Viertel eine richtig eingestellte Kopfstütze attestiert werden konnte." Der Rest war ausreichend eingestellt, also zwischen der Augen-Ohren Linie und der Kopfoberkante. Außerdem führte der Club Innenraummessungen bei 360 Fahrzeugen durch, um herauszufinden, ob die korrekte Kopfstützeneinstellung auch für große Personen möglich ist. Auch hier ist das Ergebnis wenig zufriedenstellend. Bei rund einem Viertel der vermessenen Fahrzeuge konnte die Kopfstütze nicht ausreichend hoch eingestellt werden. "Der ÖAMTC fordert die Fahrzeugindustrie auf, auch größeren Menschen Sicherheit nach dem Stand der Technik zu bieten und alle Modelle dementsprechend auszustatten", sagt Kerbl.

Quelle: ÖAMTC